David Mitchell, Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Roman aus dem Englischen, übersetzt von Volker Oldenburg
Rowolt Verlag, Reinbbek, 2012
gebunden,  719 Seiten für 19,95 €, ISBN 3-498-04518-0
Taschenbuch, 720 S. für 12,99 €, ISBN 3-499-25533-2                                                        
Hörbuch Download für 17,95 €, ISBN 3-89964-670-3
Hörbuch CD für 24,99 €, ISBN 3-89964-467-0


Ein Schmöker – 720 Seiten! David Mitchell schreibt hier nicht für Leser, die Angst vor einer langen Lesestrecke haben. Es ist auch kein Buch, um sich Samstagsmorgens damit in eine Ecke zu setzen und irgendwann am frühen Sonntagmorgen fertig zu sein. Die Lektüre wird den Leser über eine längere Zeitspanne begleiten.

Der Autor erzählt die Geschichte des Jacob de Zoet, der zwanzig Jahre in der Faktorei Dejima, Japan zubrachte. Es sind die letzten zwanzig Jahre der Verenigde Oostindische Compagnie, kurz VOC. Den Niederländern gelang es im Goldenen Zeitalter, also etwa ein Jahrhundert zuvor, das exklusive Recht für den Handel mit dem hermetisch abgeschlossenen Japan zu erringen. Allerdings durften sie ihre Handelsniederlassung nicht auf japanischem Boden errichten. Also baute man eine künstliche Insel vor der Stadt Nagasaki, die Insel Dejima (das „j“ spricht man wie ein weiches „sch“), zu Deutsch „aufgeschüttete Insel“. Jacob de Zoet aus dem zeeländischen Domburg tritt während der letzten Phase der mächtigen VOC in ihre Dienste und wird nach Dejima geschickt, wo er seine vertragliche Dienstzeit ableisten wird.

Der Autor lässt seinen Protagonisten auf dieser künstlichen Insel, deren Ausgänge zum Land hin strengstens bewacht sind, auf Missstände und betrügerisch gefälschte Buchhaltung stoßen, die ihn in durchaus lebensbedrohliche Konflikte mit der Führung der kleinen, aber streng gegliederten Gesellschaft auf der Insel bringt. Es gibt kein Ausweichen in diesem abgeriegelten Raum. Nur die jährliche Flotte von VOC-Retour-Schiffen bietet die Möglichkeit fort zu kommen. Es ist der Törn der Verlierer – de Zoet bleibt. Der Autor ruft eine ganze Palette von geschäftstüchtigen, auch zwielichtigen Kaufleuten, von Glücksrittern und verkrachten Existenzen, die man in den heimischen Niederlanden allzu gerne nach Dejima reisen sah, auf die Bühne. Doch auch loyale und pflichtbewusste Menschen lässt er dort an der Grenze zwischen dem modern werdenden Europa und dem mittelalterlichen Japan leben. Die Charaktere sind glaubwürdig gezeichnet, eben nicht nur schwarz oder weiß, gut oder böse, durchaus komplex und mit ihren Vorstellungen und Lebenshaltungen in die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert passend. Durch das, was de Zoet auf Dejima erlebt und durchmacht, erfahren wir vieles über diese berühmte Faktorei und die Kontakte zum abgeschlossenen Japan aus europäisch-niederländischer Perspektive.

De Zoet erleben wir sogar als tapferen Verteidiger dieses kleinen Stücks Niederland im fernen Pazifik. Der Autor schildert Kriminalgeschichten und maritimen Kampf auf nur 80 mal 100 m Fläche, denn größer ist Dejima nicht. Die Belagerung der Insel und ihre Verteidigung beschreibt David Mitchell mitreißend spannend, weit entfernt von einem distanzierten Schlachtenbericht aus Historikerfeder.

Aber damit gibt sich der Autor nicht zufrieden. Parallel zur Handlung auf Dejima erzählt er von der zweiten Hauptperson, der japanischen Hebamme Orito. Ihre Verbindung zu Dejima besteht über einen japanischen Arzt, der die doch noch ziemlich mittelalterliche Medizin Japans mit Hilfe der Niederländer auf den neusten Stand bringen soll. Die Geburtshilfe hat dabei besondere Bedeutung. Orito und de Zoet verlieben sich ineinander, sagt der Klappentext. Aber in diesem Punkt ist er doch eher unzutreffend, denn es ist die große Liebe ihres Lebens. Sie wird unvollendet bleiben – zumindest in dieser Welt.

Die Parallelgeschichte mit den Abenteuern dieser Hebamme nimmt es in ihrer Schilderung mit jedem James-Bond-Film auf. Der Autor beschwört Bilder herauf, die ich bisher nur dem Kino zugetraut habe. Diese Kapitel musste ich, ohne das Buch aus der Hand legen zu können, in einem Zuge lesen. Chapeau! dem Autor.

Vor der Lektüre dieses Romans konnte ich mir nicht vorstellen, dass eine Erzählung über die Pfeffersäcke der VOC, so voller Spannung sein kann. Neben dem beinahe Thriller-haften gelingt es David Mitchell mit beeindruckender Einfühlsamkeit die Tragik der Liebe dieser beiden Personen niederzuschreiben, ohne rührselig zu werden. Beide müssen sich den Zwängen ihrer Welt fügen. Der Schluss versöhnt die Seelen, aber selbst das nicht kitschig – noch einmal: Chapeau!

Der Roman hat einen wahren Kern, nämlich die Geschichte des Faktors Hendrik Doeff, der achtzehn Jahre in Dejima auf Ablösung warten musste. Ihm gelang es, ein umfangreiches japanisches Wörterbuch zu erstellen, das allerdings auf der Rückreise nach Zeeland mit einem VOC-Schiff unterging. Auch seine japanische Nebenfrau kam dabei ums Leben.

Eigentlich wollte ich den Roman an Bord im Hafen von Middelburg vor dem alten VOC-Sitz und den Packhäusern lesen. Allein, dem Roman konnte ich zwischen Weihnachten und Segelsaison nicht widerstehen.

Eine echte Empfehlung für alle, die Spannendes in Übersee und vergangenen Zeiten mit zu-treffendem historischem Kolorit lesen wollen. Die Tagebücher des Hendrik Doeff „Herrinneringen uit Japan“, die sich im digitalen Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin be-finden, habe ich im Original gelesen. Danach war ich weiteres Mal begeistert, was David Mitchell aus diesem realen VOC-Bericht gemacht hat.

Wer diesen Roman ausleihen will, findet ihn im Bestand der Stadtbibliothek Düsseldorf und der Mediothek Krefeld.